Erwin Olaf in der Kunsthalle München

Ein Künstler im Wandel der Zeit

In den Niederlanden gehört Erwin Olaf zu den bekanntesten Künstlern der Gegenwart. Wie wurde aus einem rebellischen Fotografen ein Mann, der sich mehr und mehr ins Kontemplative zurückzieht? Was hat sich in vier Jahrzehnten seines fotografischen Schaffens geändert? Ein Gespräch mit dem niederländischen Fotokünstler.

Stative, Kameratechnik, eine Leiter. Ein wenig wirkt das verlassene Set im Rücken des Künstlers wie ein typisches Erwin-Olaf-Motiv: perfekt arrangiert, von ästhetischer Präzision – und doch irgendwie surreal, melancholisch, entrückt von unseren Sehgewohnheiten. Tatsächlich ist der Künstler heute allein in seinem Studio. Shootings finden angesichts der pandemischen Situation nicht statt, die hohen Decken wirken noch höher, die Studioschirme noch größer, kein Mensch belebt die Szene. Erwin Olaf aber nimmt wohlgelaunt zum digitalen Interview Platz.

Erst einmal herzlichen Glückwunsch zu deiner ersten Einzelausstellung in Deutschland.
Vielen Dank. Ich fühle mich mit meinen Arbeiten in der Kunsthalle München sehr gut aufgehoben und bin schon sehr gespannt darauf, sie mir anzuschauen.

„Unheimlich schön“ – so lautet der Titel der Ausstellung. Deine Bildsprache oszilliert zwischen suggestiver Ästhetik und einer bedrohlichen, stillen Dramatik. Als Betrachter denkt man: Irgendwas wird gleich passieren.
Ich fühle das täglich, gerade in Zeiten wie diesen. Es gibt diese Angst, die wie eine Wolke über der Gesellschaft hängt. Ich habe diese Wolke schon immer irgendwo gesehen. Deshalb fühle ich mich wohl auch zur Kunst aus dem frühen 20. Jahrhundert so hingezogen. Darin wird diese Wolke nahezu greifbar. Es lag etwas in der Luft in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Und doch hat man das Leben gefeiert, als würde man auf einem Vulkan tanzen. Dieses Gefühl möchte ich visualisieren.

Wie hast du das Jahr 2020 erlebt? Die Pandemie hat sich vermutlich stark auf deine Arbeit ausgewirkt.
Natürlich. Wir haben fast alle Fotoshootings abgesagt. Es ist schon ein wenig beunruhigend, zumal ich aufgrund einer Lungenerkrankung zu den Risikopatienten gehöre. Für mich war und ist das eine völlig neue Erfahrung, verbunden mit einem ganz neuen Gefühl. Daraus ist dann meine Serie „April Fool“ entstanden – eine Serie von Selbstporträts eines alten Mannes, der Dinge macht, um seine Angst loszuwerden. Einkaufen gehen zum Beispiel.

Mit seinem spitzen weißen Hut und dem weiß angemalten Gesicht mutet der Mann in der Einsamkeit des verlassenen Supermarktparkplatzes wie ein Clown an. Auch in deiner Berlin-Serie taucht der Clown auf, dort in einem menschenleeren Schwimmbad.
Der Clown ist ein Motiv, mit dem ich mich sehr gerne beschäftige. Meine Berlin-Serie ist ja aus der Idee heraus entstanden, dass ich meinen ersten Gedanken fotografisch umsetze, der mir kommt, wenn ich einen ungewöhnlichen Raum oder Platz zum ersten Mal betrete. Als ich damals also ins Stadtbad Neukölln kam, hatte ich sofort einen Clown auf einem Sprungbrett vor Augen. Warum? Ich weiß es nicht. Ich hatte mich zuvor von Malern wie Otto Dix oder George Grosz und ihren surrealistischen Bildern inspirieren lassen. Surrealismus ist ja nichts anderes als unser Bewusstsein, unsere Gedanken und unsere Fantasie zu feiern. Die Fantasie ist es, die uns als menschliche Wesen so einzigartig macht – und unsere Fähigkeit, diese Fantasie in Musik, Poesie, Literatur, Malerei oder Fotografie zu übersetzen. Aber um auf die Serie „April Fool“ zurückzukommen: Die weißen Hüte sind in der niederländischen Kultur des 19. Jahrhunderts verankert. Wenn du schlecht in der Schule warst, haben sie dir diesen „Du bist ein dummer Bube“-Hut aufgesetzt. Für mich sind wir Menschen insofern dumm, als dass wir uns gegenüber unserer Umwelt und der Natur gedankenlos und arrogant verhalten. Und mein Gesicht habe ich weiß angemalt, weil ich mich schlicht und einfach nicht nur mit mir und meinen Sorgen und Ängsten auseinandersetzen wollte, ich wollte als Person weniger erkennbar sein.

In den pandemischen Zeiten ist auch eine weitere Serie entstanden: „Im Wald“.
Ja, das war im Sommer, als ich nach München gereist bin, um die Ausstellung vorzubereiten. Ich wollte mich mit der Welt auseinandersetzen, die während der Pandemie stark im Wandel begriffen ist. Ansel Adams und seine wunderschönen Schwarz-Weiß-Aufnahmen waren ebenso inspirierend für mich wie die Berglandschaft in Münchens Umgebung. Für mich war es das erste Mal, dass ich in der Natur in Schwarz-Weiß gearbeitet habe. Es war wie eine Rückkehr zu meinen fotografischen Wurzeln. Eine weitere Inspirationsquelle war die Malerei der Romantik im 19. Jahrhundert.

Viele vergleichen deine Bilder aufgrund der besonderen Lichtsetzung mit Malern wie Vermeer. Ich denke da auch an den Dänen Vilhelm Hammershøi mit seinen melancholischen Interieurs und Landschaftsaufnahmen.
Oh ja, Hammershøi. Ich hatte seine Bilder nie zuvor gesehen, bis mich eines Tages jemand darauf angesprochen hat. „Ja“, dachte ich damals, „das ist dieselbe Sorte von Gefühl, die ich mit meinen Bildern vermitteln möchte, nur ein Jahrhundert früher.“ Ein fantastischer Maler. Ich lasse mich sehr gern von der Malerei inspirieren. In meiner 2007 entstandenen Serie „Grief“ war es Piet Mondrian: die Fenster, die Linienführung und die Philosophie des „Keep it simple“ – bloß nicht zu barock werden.

Du bist seit mittlerweile mehr als 40 Jahren als Fotograf tätig. In welchen Zeiten hat dir die Arbeit am meisten Freude bereitet?
1979 habe ich angefangen, ja. Mitte der 90er-Jahre hat mir die Arbeit nicht ganz so viel Spaß gemacht, aber ansonsten immer.

Es hat sich ja sehr viel verändert seit dem digitalen Wandel.
Ja, fantastisch! Am Anfang habe ich es geliebt, in die analoge Fotografie einzutauchen. Von der Straße ging es schließlich ins Studio. Vom Kleinbild wechselte ich zur Hasselblad und zum Mittelformat. Damit arbeite ich bis heute. Baryt, Silberbromid – wie habe ich es geliebt! Wir integrieren es gerade wieder mehr und mehr. Im Studio arbeiten wir tatsächlich wieder mit Silberbromid. Für mich war und ist die Fotografie sowohl zu analogen als auch zu digitalen Zeiten aber immer vor allem eines: ein Mittel, um das Leben zu feiern.

Deine Bilder aus den 80ern-Jahren haben eine komplett andere Anmutung als die Bilder, die heute entstehen. Die Kunsthalle München beschreibt es so: vom rebellischen Fotojournalisten der 1980er-Jahre zum raffinierten Geschichtenerzähler der 2000er. Wie ist es zu dieser Wandlung gekommen?
Menschen entwickeln sich, so auch ich. Wenn ich nicht gerade eine Auftragsarbeit fotografiere, sondern es um mein eigenes Projekt geht, möchte ich immer so nah wie möglich an meinen Gefühlen dranbleiben. Wer bin ich in diesem Moment? Im Alter von 25 Jahren hatte ich ganz andere Sorgen und Ängste als mit 55. Das sieht man meinen Arbeiten im Vergleich von damals zu heute natürlich an. In meinen Zwanzigern war ich ein sehr offener Mensch, habe meine Homosexualität gefeiert, zugleich war ich aber auch mit Ängsten konfrontiert und sehr schüchtern. In den 1990er-Jahren habe ich Männer, die zwischen 30 und 40 Jahre alt waren, als ziemlich aggressiv erlebt: die Welt erobern, das Alphatier sein. Wenn ich mir meine Serien aus den späten 1990ern oder frühen 2000ern ansehe – „Royal Blood“ zum Beispiel oder auch „Fashion Victims“ –, dann stelle ich fest: Auch meine Bilder waren damals aggressiver, die Lichtsetzung kühler. Ich habe stets darauf geachtet, wie gut ich bin. Später hat sich das gewandelt, ich wollte verstärkt in den Dialog mit mir und den Menschen treten, die meine Arbeit betrachten. Eine Serie wie „Royal Blood“ könnte ich heute nicht mehr fotografieren, weil ich nicht mehr derselbe Mann bin. Ich habe an Aggressivität verloren. Ich will nicht mehr die Welt erobern und „Seht mich an!“ rufen. Heute genieße ich vielmehr Projekte wie „Im Wald“. Sie sind so viel ruhiger, kontemplativer, die Ideen kommen aus mir selbst heraus. Ich mache es für niemand anderen mehr, nur für mich. Glücklicherweise habe ich die finanziellen Möglichkeiten dazu. Wenn ich ein Bild nicht mag, werfe ich es weg. Wenn ich es mag, hänge ich es an die Wand. Ich will die Welt nicht mehr erobern, ich will mich ausdrücken. Auf eine sehr präzise Art. Wer bin ich? Was beunruhigt mich? Schon immer aber – unabhängig davon – habe ich sehr gern mit Techniken und Lichtsetzung experimentiert.

Hat neben der Malerei auch der Film Einfluss auf deine Arbeit?
Ja, mit Sicherheit. Als ich 20 war, habe ich den Film noch nicht als Inspirationsquelle in mein Studio getragen. Es hat lustigerweise 20 Jahre gedauert, bis einzelne Filmszenen wieder vor meinem inneren Auge auftauchten. Die ich dann in meine Bilder integrierte, ganz ohne den Film dabei nochmal zu sehen, nur aus der Erinnerung heraus. Ich war oft neidisch auf den Film und bin es bis heute: Wenn wir einen Film schauen oder Musik hören, können wir sehr emotional werden. Aber beim Betrachten einer Kriegsfotografie? Nein, ich habe in meinem ganzen Leben fast keine Träne darüber vergossen. Das wurde zu einer Herausforderung für mich. Ein Gefühl zu entwickeln bedeutet ja, dass du mit dem Werk in einen Dialog trittst. Das ist mein Ziel: Ich wünsche mir, dass der Betrachter auf meine Arbeit schaut und anfängt, seine eigene Geschichte daraus zu machen. Ich bin sozusagen der Influencer, der dem Betrachter ein Bühnenbild liefert für seine ganz eigenen Gefühle. Sei es durch meine Lichtsetzung, durch meine Perspektive oder auch durch den Blick der Porträtierten.

Dafür arbeitest du mit einer Präzision, die es in sich hat.
Ich möchte meine Vorstellungen und meine Einbildungskraft kontrollieren. Sobald ich meine Augen schließe, gibt es keine Fehler, keine Unschärfe, keine verpixelten Bilder. Was ich sehe, ist eine perfekte Welt, in der aber feine, unschöne Risse auftauchen. Irgendetwas scheint nicht zu stimmen. Man muss es sich vorstellen wie einen kalten Wind. Wie eine Wolke, die näher und näher kommt …

Vom 14. Mai bis zum 26. September zeigt die Kunsthalle München unter dem Titel „Unheimlich schön“ die erste Einzelausstellung von Erwin Olaf in Deutschland. Sie umspannt die einzelnen Schaffensphasen dieses wandelbaren Künstlers. Wegen der Corona-Pandemie sind die genauen Zeiten noch nicht bekannt; bitte schauen Sie auf der Website der Kunsthalle nach:

www.kunsthalle-muc.de

Autorin: Jana Kühle