UNICEF-Foto des Jahres 2022 im Willy-Brandt-Haus

Kinder als die großen Verlierer

UNICEF Deutschland zeichnet mit dem internationalen Wettbewerb „UNICEF-Foto des Jahres“ jährlich Bilder und Reportagen professioneller Fotojournalist:innen aus, die die Persönlichkeit und Lebensumstände von Kindern dokumentieren. Die frisch gekürten Gewinnerbilder des Wettbewerbs 2022 werden vom 18.01. bis 26.02.2023 im Willy-Brandt-Haus präsentiert.

Erster Preis 2022
Tigray, Äthiopien: Zuflucht zu den Büchern

In der zerstörten Bibliothek einer Grundschule in der äthiopischen Region Tigray vertiefen sich zwei Kinder in Bücher. Das Lächeln in ihren Gesichtern verrät einen Moment kleiner Glückseligkeit. Es ist ein seltener Moment. Denn die Mehrheit der rund 5,2 Millionen Menschen in der Region im Norden Äthiopiens leidet in Folge des bewaffneten Konflikts mit der Zentralregierung unter Gewalt, Vertreibung, Unterernährung und Trinkwassermangel.

Der argentinische Fotograf Eduardo Soteras dokumentiert besonders die Situation der Kinder in Tigray seit 2020: in Flüchtlingslagern, in Krankenhäusern, in Auffangstationen für sexuell misshandelte Mädchen. Auch beim Brennholzsammeln und auf der Suche nach Wasser. Und er fotografiert solch rare Augenblicke wie jenen, in dem sich zeigt, was die Kinder von Tigray mit den Kindern auf aller Welt teilen: das Bedürfnis, sich friedlich und neugierig mit etwas beschäftigen zu dürfen, das ihnen Freude bereitet.

Eduardo Soteras, Argentinien (Agentur Agence France-Presse): Soteras, Jahrgang 1975, hat Wirtschaftswissenschaften studiert, bevor er zur Fotografie kam. Er hat zunächst in Palästina gearbeitet, dann in Spanien, Mexiko, später im Himalaya, in der Demokratischen Republik Kongo und ab 2018 in Äthiopien. Gegenwärtig lebt er mit Frau und zwei Kindern in Nairobi. Ein 2011 publiziertes Werk von Soteras über Fluchtbewegungen in Zentralamerika wurde in den USA als bestes Fotobuch des Jahres 2011 ausgezeichnet; seine Arbeiten werden bei großen Fotofestivals gezeigt und international in Medien veröffentlicht.

Zweiter Preis 2022
Ukraine: „Einst hatte ich ein Zuhause“

 „I once had a home”, hat der us-amerikanische Fotograf Ron Haviv seine Reportage aus der in einen Verteidigungskrieg gezwungenen Ukraine genannt. Es sind Bilder von Abschied und Flucht, von verlassenen Kinderwagen, von zerstörten Brücken und zerschossenen Wohngebäuden. Und von Kellern und Metrostationen, in denen Kinder geboren werden. In denen sie spielen. Und in denen sie lernen. Eine Lehrerin liest einer Gruppe von Mädchen und Jungen in einem Souterrain der Hauptstadt Kiew Geschichten vor. Vielleicht ist es ein spannendes Märchen, das sich in den Augen der Kinder spiegelt. Aber ebenso könnten es all die von den Erfahrungen der Kinder ausgelösten Emotionen sein, die sich hier zeigen: von Angst bis Erschrecken bis Fassungslosigkeit. Millionen Ukrainerinnen mit ihren Kindern sind auch innerhalb des Landes auf der Flucht. Fast 1000 Schulen waren, Stand November 2022, beschädigt, fast 130 komplett zerstört – mindestens 400 Kinder hatten durch Artilleriebeschuss ihr Leben verloren, 800 ihre körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Leben, Artikel 6 der UN-Kinderrechtskonvention, das Recht auf Spiel und Freizeit (Art. 31), das Recht auf Bildung (Art. 28) – für Mädchen und Jungen in der Ukraine ist dies seit Kriegsbeginn im Februar 2022 bei jedem Alarm allenfalls im Untergrund ein wenig gesichert.

Ron Haviv, USA (Agentur VII) – für 1843/Economist: Haviv, Jahrgang 1965, gehört zu den weltweit renommiertesten Fotografen und Dokumentarfilmern der Gegenwart. Haviv ist Mitbegründer der Fotoagentur VII und ihrer Stiftung; seine Reportagen aus dem Jugoslawienkrieg, aus Afghanistan, Panama, Sri Lanka, Darfur, Haiti und etwa 20 weiteren Kriegs- und Konfliktzonen haben auch die internationale Politik bewegt. Sein vielfach ausgezeichnetes Werk ist in den Fotokollektionen des Pariser Louvre und weiterer Top-Museen zu sehen. Auch für UNICEF, „Ärzte ohne Grenzen“ und das Internationale Rote Kreuz war Haviv schon aktiv.

Dritter Preis 2022
Afghanistan: Die versteckte Mädchenschule

Seit die Taliban im August 2021 erneut die Macht in Afghanistan übernommen haben, ist Mädchen der Besuch weiterführender Schulen wieder verboten; Teil einer Politik, Frauen und Mädchen grundlegende Rechte zu nehmen. Mehr als einer Million Mädchen werden damit Bildungschancen verweigert – während das Risiko von Ausbeutung, Missbrauch und früher Verheiratung steigt. Und Kinder in Afghanistan ohnehin von Hunger, Armut und Krankheit bedroht sind, 13 Millionen Jungen und Mädchen humanitäre Hilfe benötigen. Solidarität mit den Mädchen regt sich aber noch im Verborgenen. Etwa in der heimlich unterstützten Schule, von der die Reportage des Fotografen Daniel Pilar erzählt. Er hat sie in einem behelfsmäßig hergerichteten Gebäude am Rande von Kabul entdeckt, verborgen in einem Hinterhof. Hier unterrichtet eine junge mutige Lehrerin auch Mädchen der 7. und 8. Klasse. Und hier zeigt sich, dass deren Bildungshunger stärker ist als jedes Verbot. So anonym wie die Lehrerin müssen allerdings auch die Eltern bleiben, die ihre Töchter auf solche Schulen schicken.

Daniel Pilar, Deutschland (Agentur laif) – für die FAZ: Daniel Pilar, 1976 als Kind tschechischer Eltern in Deutschland geboren, absolvierte ein Diplom-Studium an der Fachhochschule Hannover für Kommunikations-Design mit dem Schwerpunkt Fotojournalismus, war ab 2006 für drei Jahre festangestellter Fotograf der FAZ, seither arbeitet er frei. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählt das 2019 erschienene „Afghanistan Endlos“, Ertrag von neun Reisen, die Pilar zwischen 2007 und 2014 in das Land unternahm.

Peter-Matthias Gaede: Texte zum „UNICEF-Foto des Jahres“ 2022