ROG: Fünf Reporter in Gaza getötet

Tod durch Kopfschüsse

Fünf palästinensische Journalisten sind bislang laut Reporter ohne Grenzen während der Reaktion der israelischen Armee auf die blutige Militäroffensive der Hamas getötet worden. Zahllose unschuldige fallen dieser Tage den „Militäroperationen“ zum Opfer, ob in Gaza, Israel oder in der Ukraine. Man muss ihrer gedenken, um dem Irrsinn ein Gesicht zu geben.

Es sind auch Bilder wie jenes von Evgeniy Maloletka, die das Unbegreifliche zumindest ansatzweise begreifbar machen: Das diesjährige World Press Photo of the Year zeigt eine hochschwangere Frau, die am 9. März 2022 nach einem gezielten russischen Raketenangriff aus den Trümmern der Entbindungsklinik von Mariupol geborgen wird. Irynas Sohn kam kurz danach tot zur Welt. Sie gab ihm den Namen Miron – abgeleitet vom ukrainischen und russischen Wort für Frieden – ehe sie wenige Minuten später ebenfalls starb.

Maloletka, Kriegsfotograf, Journalist und Filmemacher aus der ukrainischen Stadt Berdyansk, war einer der wenigen Bildberichterstatter, die von Anfang an die Gräuel des russischen Angriffskrieges dokumentiert haben. „Dieses Bild ist eines, das ich am liebsten vergessen würde – aber ich kann es nicht“, sagt der 36-Jährige, der als freier Mitarbeiter für Associated Press, Al Jazeera und den Spiegel weiter aus der Ukraine und anderen Krisenherden der Welt berichtet. Für seine Reportage aus Mariupol, von der er hofft, dass sie vielleicht eines Tages als Beweismittel in einem Kriegsverbrechertribunal genutzt werden wird, erhielt er neben dem World Press Photo Award auch den Knight International Journalism Award, den Visa d’or News Award, den Prix Bayeux Calvados-Normandie und zahlreiche weitere Auszeichnungen aus Italien, Deutschland, Norwegen und den Vereinigten Staaten.

Reporter ohne Grenzen mit weiteren Informationen zu den aktuellen Geschehnissen in Gaza: Am Dienstag (10.10.2023) wurden im Gazastreifen drei palästinensische Journalisten getötet. Bereits am frühen Samstagmorgen (07.10.2023), unmittelbar nach Beginn des Hamas-Angriffs auf Israel, waren zwei palästinensische Fotojournalisten getötet worden. In dem Konflikt beispiellosen Ausmaßes sind innerhalb weniger Tage bereits mehrere hundert Zivilistinnen und Zivilisten auf beiden Seiten ums Leben gekommen.

Es ist unerlässlich, dass Journalistinnen und Reporter Konflikte dokumentieren. Wir fordern deshalb sowohl die israelische als auch die palästinensische Führung auf, auch im Krieg den Schutz von Medienschaffenden gemäß Resolution 2222 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen zu gewährleisten“, sagte RSF-Geschäftsführer Christian Mihr. „Schon vor dem Beginn des Angriffs der Hamas auf Israel wurden im vergangenen Jahrzehnt 17 palästinensische Medienschaffende im Westjordanland und im Gazastreifen getötet – aktuell sind es insgesamt also 22 Menschen. Das macht die Palästinensischen Gebiete zu einer der weltweit gefährlichsten Regionen für Medienschaffende.“

Mohammed Subh, Fotojournalist der palästinensischen Nachrichtenagentur Chabar, sein Kollege Hischam al-Nawadschiha und Said al-Tawil, Chefredakteur des unabhängigen palästinensischen Nachrichtensenders Al-Chamisa, hatten sich am Dienstag in der Nähe des „Hadschi“-Gebäudes im Westen des Gazastreifens positioniert. Sie wollten einen Luftangriff auf das Hochhaus, in dem mehrere Medienunternehmen untergebracht sind, dokumentieren. Im letzten von Said al-Tawil aufgenommenen Video erklärt er, dass die israelischen Streitkräfte gerade mit einem Angriff auf das Gebäude gedroht und dass Frauen, Männer und Kinder den Bereich verlassen hätten. Auch die Journalisten zogen sich einige hundert Meter in die Nähe des „Babel“-Hochhauses zurück. Sie wurden trotz ihrer Schutzausrüstung – kugelsichere Westen und Helme – durch die Wucht der Angriffe getötet.

Am Samstagmorgen berichtete der unabhängige Fotojournalist Mohammed al-Salihi, Korrespondent der palästinensischen Nachrichtenagentur Al-Sulta Al-Rabia, über den Beginn der israelischen Reaktion auf den Angriff der Al-Qassam-Brigaden im Bezirk Buraidsch. Nach Informationen von RSF wurde er an der Ostgrenze des Gazastreifens von mehreren Kugeln in den Kopf getroffen. Ein am Samstag im sozialen Netzwerk X (ehemals Twitter) veröffentlichtes Video zeigt den 29-jährigen Reporter bewusstlos mit blutigem Hals. Sein Tod wurde wenige Stunden später vom palästinensischen Gesundheitsministerium bestätigt. Mehreren Quellen zufolge war er eindeutig als Journalist zu identifizieren.

Von derselben Konfrontation berichtete auch Ibrahim Lafi, Fotojournalist der Produktionsfirma Ain Media. Er trug eine Presseweste und hielt seine Kamera in der Hand, als er erschossen wurde. Der Journalistikstudent war laut einem seiner Kollegen als einer der ersten Medienschaffenden am Samstag vor Ort, um die Ereignisse in Gaza zu dokumentieren.

In einer Erklärung vom Dienstag machte die Palästinensische Journalistengewerkschaft die israelischen Streitkräfte für den Tod von dreien der genannten Reporter verantwortlich und prangerte „von der israelischen Besatzung begangene Verbrechen“ an. Die israelischen Behörden ihrerseits wiederholten in ihrer offiziellen Mitteilung, dass sie keine Zivilistinnen und Zivilisten ins Visier nähmen.

Außerdem: Zwei Reporter vermisst, ein weiterer verletzt
Laut RSF-Informationen werden seit Samstag zudem zwei weitere Fotojournalisten in Gaza vermisst. Verwandte der Fotografen Haitham Abdel Wahed von Ain Media und Nidal al-Wahidi von der Nachrichtenseite News Press, zudem Mitarbeiter der Produktionsfirma Al-Nadschah, verloren am Morgen den Kontakt zu ihnen. Die beiden Reporter berichteten gemeinsam über die Zusammenstöße zwischen den Al-Qassam-Brigaden und dem Islamischen Dschihad auf der einen und israelischen Streitkräften auf der anderen Seite am Grenzübergang Erez in Beit Hanoun im Norden des Gazastreifens. Am nächsten Tag sagte die Familie von Nidal al-Wahidi, sie habe ihn in einem Video identifiziert, das von der israelischen Armee gefangene Häftlinge zeigt. Eine offizielle Bestätigung von israelischer Seite gibt es nicht.

Der Korrespondent des in Kairo und London ansässigen Nachrichtensenders Al-Ghad TV, Ibrahim Kannan, wurde am Samstag nach einem israelischen Angriff auf die Stadt Rafah im Süden von Gaza, von wo er berichtete, mit Verletzungen an Fuß und Arm vorübergehend in ein Krankenhaus eingeliefert.

Zerstörung von Redaktionsbüros und Ausrüstung
Darüber hinaus wurden die Redaktionsgebäude mehrerer Medienunternehmen in Gaza beschossen. Die Räume der lokalen unabhängigen Tageszeitung Al-Ayyam im „Palästina“-Hochhaus wurden bei einem israelischen Angriff am Samstag vollständig zerstört. Auch das Büro der 2005 in Bethlehem im Westjordanland gegründeten Nachrichtenagentur Ma’an mit einem Sendemast auf dem „Watan“-Turm in Gaza wurde durch einen Luftangriff beschädigt. Nach Angaben des Chefredakteurs Imad Eid geschah der Angriff ohne die eigentlich übliche Vorwarnung und zerstörte Ausrüstung und Geräte. Trümmer, die durch einen weiteren Angriff verursacht wurden, landeten auf der Terrasse des Büros der Agence France Press (AFP), wo sich gerade Mitarbeitende aufhielten. Es wurden keine Verletzungen gemeldet. Betroffen waren auch die Büros des lokalen Radiosenders Gaza FM und der Nachrichtenagentur Schehab.

RSF recherchiert gemeinsam mit seinen lokalen Partnern weitere Vorfälle in Gaza sowie in Israel, bei denen mutmaßlich Journalistinnen und Journalisten bei ihrer Arbeit von den Kampfhandlungen betroffen waren.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit stehen die Palästinensischen Gebiete auf Platz 156. Israel steht auf Platz 97. Mehr zur Lage der Pressefreiheit in den Palästinensischen Gebieten unter www.reporter-ohne-grenzen.de/palaestinensergebiete, in Israel unter www.reporter-ohne-grenzen.de/israel. … Soweit die Meldung von Reporter ohne Grenzen.

Evgeniy Maloletkas Dokumente sind aktuell bis zum 12. November 2023 bei WestLicht zu sehen. Zum 22. Mal ist dort die wichtigste Leistungsschau der internationalen Pressefotografie, World Press Photos 23, zu sehen.

www.westlicht.com

Redaktion: A. Spaeth