Begegnung mit einer neuen Generation

Generation Y

Eine besondere Generation wird bald das Ruder in den Führungsetagen der Wirtschaft und in der Politik übernehmen. Die Fotografin Lorraine Hellwig wirft einen genauen Blick auf die Jugendkultur von heute und nimmt im Gespräch eine klare Haltung ein.

Die „gute aussichten“-Gründerin Josefine Raab und Organisator Stefan Becht hatten zur Portfoliosichtung in die Deichtorhallen Hamburg eingeladen, wo junge Fotografen und Fotografinnen an zahlreichen Tischen Kennern der Materie ihre Arbeiten präsentierten. Eine davon stach deutlich hervor: die der Münchnerin Lorraine Hellwig. Überraschend authentisch überfallen ihre fotografischen Ansichten den Kritiker, der sich unvermittelt in der direkten Auseinandersetzung mit einer jungen Generation befindet, die neu verstanden werden will – werden muss. Lorraine Hellwig weiß sich auszudrücken. In Wort und Bild.

Wir haben dich die Bildauswahl auf diesen Seiten treffen lassen. Warum genau diese Motive? Was sagt die Selektion über dich und deine Sicht auf das Leben aus?
Ich habe versucht, mir vorzustellen, welchen Eindruck ich bei Betrachtern erwecken will, die noch nie ein Bild von mir gesehen haben. … Ich versuche, lebensbejahende Bilder zu machen, ohne an Tiefgründigkeit zu verlieren, Bilde,r die man sich abseits des Hypes des ersten Betrachtens auch gerne ein zweites oder drittes Mal anschaut.

Bildest du (unter anderem) die Jugendkultur ab, weil du dich selbst als junger Mensch mit ihr verbunden fühlst, oder ist dein Ansatz eher ein dokumentarischer aus der Distanz heraus?
An Jugend fasziniert mich immer wieder diese Lebenseuphorie, diese Leichtigkeit, die man eventuell mit Naivität verwechseln könnte. In gewisser Weise fühle ich mich diesem Gefühl jetzt mehr verbunden als vor zehn Jahren, als ich selbst 16 war. Und ich versuche natürlich immer, ein Sujet so nahe wie möglich zu fotografieren – egal ob ich nur fünf Minuten für ein Porträt habe oder jemand einen ganz anderen Background hat als ich. Empathie spielt da eine ganz wichtige Rolle.

Wie würdest du das Lebensgefühl der heutigen Jugend umschreiben?
Everything is possible.

Was schenkt die junge Generation unserer Gesellschaft?
Neue Perspektiven auf die Welt und neue Wertesysteme. Luxus und Sinn zum Beispiel haben eine andere Definition und einen anderen Stellenwert bei den Jüngeren als noch bei unseren Eltern oder Großeltern.

Wie wird denn Luxus und Sinn heute bei jungen Menschen definiert?
Die Sharing-Kultur ist zum Beispiel eine neue Art von Luxus – man muss gewisse Dinge nicht mehr selbst besitzen, man leiht sie sich. Ein sinnvoller Job ist wichtiger als ein krasses Einkommen. Das Statussymbol des Autos existiert weniger, ein cooles Fahrrad tut es auch. Body Acceptance ist wichtiger, als den perfekten Körper zu haben. Vintage beliebter als Fast Fashion. Das ist zumindest, was ich so beobachte.

Was erwartet die junge Generation von unserer Gesellschaft?
Change!

Gelegentlich nehme ich eine Zwiespältigkeit im Leben junger Menschen wahr. Eine Art innere Zerrissenheit zwischen exzessivem Rausch, als würde man das Leben in einem Zug inhalieren wollen, und einer tiefen Niedergeschlagenheit, die einen Zustand der Ohnmächtigkeit nach sich zieht. Ist diese Wahrnehmung berechtigt? Und wenn ja: Was steckt dahinter? Und: Gibt es einen Ausweg?
Ja, das finde ich sehr gut beobachtet, aber ich glaube, diese Zustände gab es schon immer bei jungen Menschen. Dieser Ideenreichtum und die Ziele und „Verrücktheit“, die man hat, und wie man dann feststellen muss, dass nicht alles möglich ist, weil die Welt sich nicht von heute auf morgen neu erfinden lassen will und Erfolg sehr oft mit Scheitern verbunden ist. Bei mir ist es oft so ein Rausch von Euphorie, wenn man viel unterwegs ist und so viel Neues erlebt und sieht, und dann die erste Zeit, wenn man wieder nach Hause kommt und alles ist gefühlt gleiches graues Nichts, die Randomness des Lebens an sich fällt einem wieder auf. Ich glaube, der einzige Ausweg ist, das zu akzeptieren, diese Downs nicht zu ernst zu nehmen, sich Zeit zu nehmen und rational bewusst zu machen, dass das nur eine Phase ist, die vorbeigeht, gehen muss, haha … Und dann step by step wieder weitermachen.

Welchen Beitrag sollen deine Fotografien leisten?
Wenn sie das können, dann würde ich gerne wollen, dass meine Bilder den Betrachter empowern und gleichzeitig hinterfragen. Es soll Spaß machen, sie anzuschauen, und wenn der Betrachter die tiefere Message sieht, dann freut mich das natürlich umso mehr.

Wieso arbeitest du mit Schriftzügen?
Die Bilder mit den Schriftzügen sind aus der Serie „Y A MANIFESTO“. Der Ursprung der Arbeit war ein Manifest – generiert aus Werbesprüchen, Zitaten und Lebensansichten in kurzen amerikanischen Slogans, die ich kopiert und in einem Youtube-Video aneinandergereiht habe. Du kannst das ganze Manifest hier hören: https://bit.ly/2O8gu8n. Danach wollte ich die persönlichen Manifeste der Porträtierten „erahnen“. Wahrscheinlich bin ich visuell an meine Grenzen gestoßen und wollte den Bildern mehr Tiefe verleihen, als nur die reine Oberfläche abzubilden. Ich habe aber mit Photoshop extra meine eigene Handschrift verwendet, da ich betonen wollte, wie subjektiv fotografieren selbst und das Zeigen von Bildern und von Aussagen ist. … Eine Fotografie, egal wie neutral sie wirkt, entsteht irgendwo zwischen Fotograf, Print und Betrachter und hat manchmal mehr mit Malerei als mit der Wirklichkeit zu tun – computergeneriert sind meine Schriftzüge unter anderem, weil sich die Realitäten immer mehr auch ins Virtuelle verlagern.

Wie sehr hat dich der Instagram-Rauswurf eines deiner Bilder getroffen? Hat er dich in deiner Fotografie reglementiert? Warum (nicht)?
Haha … ich musste ziemlich lachen, da das Bild schon von mir selbst zensiert war, als ich es gepostet habe und trotzdem gelöscht wurde. Ich fand die Idee interessant, dass ich „Gemeinschaftsrichtlinien“ verletzt haben soll, und habe mir Gedanken über diese sogenannte (Instagram-)Gemeinschaft gemacht und wer da die Regeln bestimmt. Außerdem sind für mich Screenshots eine neue Art der Fotografie – ich weiß, dass mir da viele widersprechen würden, aber für mich ist ein Screenshot auch eine Dokumentation von Zeit, (digitaler) Ort und Porträt und damit eine Art Fotografie. Klar fühle ich mich seit diesem ersten „Rauswurf“ eingeschränkt. Bei Nacktheit passe ich deswegen inzwischen sehr auf – ich will ja nicht, dass mein Account ganz eliminiert wird.

Warum liegt dir so viel an deinem Account? Wäre es nicht vielleicht auch eine Option, solchen Mechanismen den Rücken zu kehren und die Energie statt in die digitale in die analoge Welt zu stecken, mit Eye-to-eye-Kontakten?
Ich mag Instagram und will auf dem Laufenden bleiben, was Freunde und Kollegen gerade machen, aber auch was in der Welt los ist, was die Leute beschäftigt, the latest shit und so weiter … 🙂 Ich finde die Plattform unterhaltend und habe schon Freunde und neue Leute darüber kennengelernt, die ich so in der analogen Welt nicht getroffen hätte. Ich zeige natürlich auch Bilder, habe einen kleinen Überblick über meine letzte Zeit. Das gefällt mir besser, als es irgendwo im Archiv verschwinden zu lassen, und auch Aufträge und neue Kollaborationen sind schon über Instagram entstanden. Ich sehe Social-Media-Tools als Erweiterung der „Real Life“-Kontakte und nicht als Ersatz. Aber mir fällt es ehrlich gesagt viel schwerer, jemanden in echt mit meiner Arbeit zu
konfrontieren, als ab und zu etwas digital zu posten. Und man muss sich ja nicht zwischen der digitalen oder der analogen Welt entscheiden – man kann ja in beiden leben und beide beeinflussen sich gegenseitig. Klar, manchmal fühle ich mich den digitalen Accounts gefühlsmäßig näher als der Welt um mich rum, sollte ich mir Sorgen machen? Haha … aber man wird kein System ändern, indem man einfach „geht“.

Wie stehst du zur Freiheit in Bild und Text? Warum?
Ich bin PRO Meinungsfreiheit in Bild und in Text – und zwar komplett. Klar gibt es Bilder, die ich nicht sehen will, die ich nicht sehen muss … aber wenn wir uns in unserer Bildsprache einschränken lassen, lassen wir uns in unserer Sprache einschränken und damit in unseren Gedanken. Wie gesagt, ich finde, man darf Bilder nicht zu sehr mit der Wirklichkeit verwechseln, deswegen sollte da alles erlaubt sein.

Was macht dich traurig?
„Fix you“ von Coldplay.

Und was macht dich so richtig glücklich?
Ein gutes Buch, eine tolle Geschichte, Überraschungen, Veränderungen, das Unerwartete, Abenteuer, Menschen, die für eine Sache brennen, machen mich glücklich. Und Lasagne von Manu.

Lorraine Hellwig

Auch wenn es dieses Porträt nicht vorgibt: Lorraine Hellwig war in den Deichtorhallen Hamburg von einer wohltuenden Heiterkeit beseelt, sie überstrahlte durch ihre Offenheit förmlich alle Gäste der Portfoliosichtung. Auch im direkten Gespräch sprang ihre innere Motivation über. Eine Kraft, die keine Beeinflussung zulässt und sich in authentischen Bildern niederschlägt. Das machte die 1993 geborene und auch in Paris lebende Münchnerin zu einer Preisträgerin des Wettbewerbs „gute aussichten 2018/2019 – junge deutsche fotografie“. Als freiberufliche Fotografin mit einem Bachelor of Art in Fotodesign veröffentlichte sie bereits in Medien wie ZEIT Magazin, SZ Magazin online, Brand Eins, GQ und im STERN. www.lorrainehellwig.com

Text: Andrea Spaeth
Fotos: Lorraine Hellwig

Das Interview von Lorraine Hellwig erschien in  Photographie Ausgabe 1-2 | 2020 .