LOST-PLACES-FOTOGRAFIE

Ob verlassene Klinik, feuchter Kaltkriegs-Bunker oder bloß vergessene Villa, Lost Places atmen den Flair des Vergangenen. Foto: Emanuele Mazzoni

DEN CHARME DES MORBIDEN EINFANGEN

Alles ist vergänglich – doch was bei Menschen ziemlich pietätlos wäre, kann bei alten Industrie- und Militärbauwerken für wahrhaft atemberaubende Bilder sorgen.

Es ist eine vergessene Welt, die sich einem offenbart. Manchmal liegt sie nur wenige Meter von einer vielbefahrenen Straße entfernt. In anderen Fällen muss man sich kilometerweit durch Gestrüpp kämpfen. Und manchmal liegen die Orte dort, wo niemals Tageslicht hingelangt – obwohl ein paar Stockwerke weiter oben das Großstadtleben pulsiert. Lost Places – Verlorene Orte.

Das ist mehr als Ruinenfotografie und hat nur am Rande mit Architekturfotografie zu tun. Wer sich auf dieses Steckenpferd schwingt, muss mehr mitbringen, als Equipment-Skills und ein gutes Auge fürs Motiv – wer Lost Places ablichten will, in dem muss ein bisschen Indiana Jones stecken, inklusive der Fähigkeit zur Recherche, denn oft genug wird man nach vielen Jahren der erste Mensch, der ein solches Objekt überhaupt wieder betritt. Wie der Einstieg gelingen kann, zeigt der folgende Artikel.

Bunker gibt es in Deutschland dank zweier Welt- und einem Kalten Krieg zuhauf – und sie sind hervorragende Explorationsobjekte. Foto: Всеволод Чуванов

Dabei muss man zunächst definieren, was einen Lost Place überhaupt ausmacht. Soviel bereits vorweg, es reicht nicht, dass der Ort verlassen ist – sonst trüge jede leerstehende Fabrik schon dieses Prädikat. Nein, die Orte müssen auch (weitgehend) in Vergessenheit geraten sein. Wenn man einen Ortskundigen danach fragt und der etwas zur Antwort gibt wie “jaaa, da war mal was, aber ob das überhaupt noch da ist, keine Ahnung” dann ist man schon auf der richtigen Spur. Doch obgleich Industriegebäude Lost Places sein können, umfasst der Begriff doch viele weitere Arten von Anlagen:

  • Medizinische Einrichtungen
  • Militärische Installationen (Bunker, Radaranlagen, Grenzeinrichtungen…)
  • Verkehrswege (Stillgelegte (Auto-) Bahnstrecken, Brücken, Tunnels usw.)
  • Wohngebäude (einsame Villen, ehemalige Hotels etc.)

Das Problem dabei ist, dass es in Deutschland zwar unzählige Lost Places gibt, aber eben auch eine immer größer werdende Community. Was in den 90ern als Privatleidenschaft weniger begann, wurde durch TV-Beiträge einem Massenpublikum bekannt – viele Lost Places sind heute gar nicht mehr so “lost”, sondern wurden erst von Schrottsammlern geplündert, anschließend von Graffiti-Künstlern verunstaltet und befinden sich nun in einem trostlosen Zustand, der weder archäologischen noch fotografischen Wert besitzt.

Ein Bein im Knast, eines im Krankenhaus
Des Weiteren muss man sich eines ins Gedächtnis rufen: Verlassen und Vergessen ist nicht gleichbedeutend mit “besitzerlos, free for everyone”. Praktisch jeder Lost Place hat einen Eigentümer, ob nun Privatmensch oder Regierungsbehörde. Wer klar erkennbare Grundstücksgrenzen – und dazu gehört selbst ein löchriger, umgekippter Zaun, übertritt, begeht rein rechtlich eine Straftat, nämlich Land- oder Hausfriedensbruch.

Allerdings handelt es sich dabei meist um typische “wo kein Kläger, da kein Richter”-Situationen. Denn wer ein Lost Place seit vielleicht Jahrzehnten sich selbst überlässt, wird es eher nicht merken, wenn sich ein Fotograf darin umsieht – und dass man außer Fotos nichts von dort mitnimmt, sollte Ehrensache sein. Allerdings, wer die Ergebnisse seiner Touren veröffentlicht, schreit geradezu heraus, was er getan hat. Die rechtlich saubere Methode ist deshalb Nachfragen. Ämter helfen hier nicht weiter, deshalb eher Anwohner und andere Locals ansprechen – das hat auch den Vorteil, dass man dadurch nicht selten noch weitere Ziele verraten bekommt.

Prinzipiell begeht man in jedem Lost Place Landfriedensbruch. Foto: thomaseder

Und wenn man die fotografische Lost-Places-Tagesausbeute durch den Computer jagt, bietet es sich an, zumindest die Fotos, die man veröffentlichen will, mit einem Watermark und einer Kontakt-Email zu versehen. Das geht mit den automatisierten Photoshop-Aktionen binnen Minuten. Denn wenn jemand dann Zweifel hat, ob der Fotograf sich dort legal aufgehalten hat, kann man die Sache so auf direktem Weg klären – anstatt plötzlich eine Einladung aufs nächste Polizeirevier im Briefkasten zu haben.

Und dann gilt für absolut jeden Lost Place: Wo der Zahn der Zeit seit Jahrzehnten nagt, besteht immer Unfallgefahr. Sei es durch morsche Holzstufen, verrostete Stahlträger oder zerbröselndes Mauerwerk. Aus diesem Grund sollte für jeden Fotografen eine mehrstufige Eigensicherungskette gelten:

  • Niemals alleine gehen, immer eine zweite Person dabeihaben
  • Immer einer dritten Person die genaue Lage des Ortes verraten (etwa via Google Earth und präzisen geographischen Koordinaten) und eine “Bitte melde dich”-Uhrzeit vereinbaren
  • Keine ungesicherten Kletterversuche unternehmen
  • Nie ohne vollen Handy-Akku gehen
  • Kfz-Erste-Hilfe-Set in den Rucksack stecken

So sehr dies manchen Fotografen auch widerstreben mag, aber Sicherheit geht vor – vor allem unter der Prämisse, dass es sich bei der Lost-Places-Fotografie nicht um normales Wald-und-Wiesen-Knipsen handelt.

Die Gefahr sollte bei aller Entdecker-Begeisterung im Hinterkopf bleiben. Foto: daskleineaterlier

Lost Places finden
Auch wenn die zunehmende Bekanntheit des Hobbys viele Menschen anlockt, so hat dieser Grad doch ein Gutes. Es gibt nämlich mittlerweile ausreichend Communities, die sich der Findung, Dokumentierung und Erforschung von Lost Places verschrieben haben.

  • Eines der größten Foren ist geschichtsspuren.de, die zudem auch eigene Artikel erstellen und eine Datenbank pflegen – sehr gut, um einen Überblick zu bekommen.
  • lost-places.com ist ein eher internationales Forum, das sich vor allem dem Fotografieren der Orte widmet.
  • Rottenplaces.de ist hingegen ein richtiges Magazin – und bietet nicht nur Datenbanken, sondern auch einen Haufen Artikel sowie viel Zusatzwissen.
  • Hidden-places.de ist ein klassisches Online-Forum, das sich nach eigenem Bekunden sowohl der Diskussion als auch der Fotografie von Lost Places widmet.
  • Der Verein Berliner Unterwelten widmet sich hauptsächlich den Untergrund-Bauten der Bundeshauptstadt, bietet dort Führungen sowie generelle Tipps.

Auf diesen und ähnlichen Seiten findet man definitiv gute Einsteigerziele – allerdings muss man eben dann damit leben, dass diese Orte bereits betreten und höchstwahrscheinlich abgelichtet wurden.

Kaum zu übersehen: die Duga Radaranlage in der Nähe von Tschernobyl. Foto: kariochi

Wer das nicht will, muss tatsächlich den Indiana Jones in sich erwecken – und in die Archive seines Heimatortes tauchen. Fast in jedem Dorf findet sich jemand, der die Gemeindechronik wie seine Westentasche kennt. Ansprechen von älteren Menschen – das können schon die eigenen Eltern sein – ist ebenfalls immer eine gute Methode. Mit “Du, Papa, was war hier eigentlich im Krieg los?” begann schon so manche Lost-Place-Wiederauffindung. Eine weitere Möglichkeit ist Google Earth. Aus dessen Perspektive werden verborgene Orte gut sichtbar – wenngleich das viele Recherchestunden bedeutet, aber wie gesagt, Lost-Places-Fotografie beinhaltet eben auch viel archäologische Arbeit.

Gear-Check: Fotografisches
Kommen wir nun zu den handfesteren Dingen. Dabei beginnen wir mit dem fotografischen Gear, denn darauf kommt es ja schließlich an.

  • An Objektiven sollte gelten “so lichtstark wie möglich”. Denn mit natürlichem Licht wirken die meisten Lost Places einfach authentischer, als wenn sie blitzgewaltig ausgeleuchtet werden.
  • Bei der Objektiv-Anzahl scheiden sich die Geister. Wer leicht unterwegs sein will, sollte ein Reiseobjektiv einpacken. Ansonsten reicht das Zweigestirn aus 18-55 & 55-200/300.
  • Soll es ein Blitz sein, kommt es darauf an, um welche Art von Lost Place es sich handelt. Bei überirdischen Gebäuden, wo man nur eventuell dunkle Ecken ausleuchten muss, reicht ein normaler Aufsteckblitz. Für Bunker und ähnliche Untergrundkonstruktionen sollte es aber eher etwas wie die Cullmann-Lichtsysteme sein – das hat auch den Vorteil, dass man damit eine zweite Lampe dabei hat.
  • Unverzichtbar ist ein Kamera-Gurtsystem, das einem erlaubt, sich mit beiden Händen festzuhalten.
  • In die gleiche Kerbe schlägt auch die Fototasche. Ein Rucksack sollte es schon deshalb sein, weil man für viele Lost Places weite Wege oder solche durchs Unterholz in Kauf nehmen muss. Dabei kann man über den fotografischen Tellerrand zur “Tactical-Fraktion” schielen, wo es Konstruktionen wie den Hazard-4 “Photo Recon” gibt, die für solcherlei Fotografie unter erschwerten Bedingungen entworfen wurden.

Damit sollte man es dann aber auch an Foto-Equipment belassen – denn wer noch Stativ und das restliche Brimborium mitschleppt, wird nur unbeweglich.

Schwer auszumachen: Lost Places, die absichtlich versteckt waren. Foto: jojoo64

Gear-Check: Allgemein
Zudem sollte es nicht bei der Alltagskleidung bleiben. Denn neben der Tatsache, dass man unter Umständen weit laufen muss, spielt auch der Faktor eine Rolle, dass viele Lost Places einsturzgefährdet sind.

  • An die Füße gehören nur mindestens knöchelhohe Stiefel. Feste Wanderschuhe sind gut, hohe Militär-Boots optimal.
  • Keine kurzen Hosen – zu schnell bleibt man an einem rostigen Nagel oder irgendwelchen Dornen hängen und darf anschließend seine Tetanus-Impfung auffrischen lassen.
  • Keine abstehende Oberbekleidung, (also bspw. proppenvolle Fotografenwesten). Denn auch damit bleibt man schnell hängen.
  • Wer auf Nummer sicher gehen will, trägt einen Bauarbeiter- oder Bergsteigerhelm. Denn selbst wenn keine Einsturzgefahr besteht, stößt man sich in alten Gemäuern spielend leicht den Kopf.
  • Pro Person mindestens eine lichtstarke Taschenlampe. Um die Hände frei zu haben, empfiehlt sich natürlich eine Stirnlampe, aber für viele Leuchten gibt es auch Adapter, mittels derer sie an Helmen befestigt werden können.
In alten Stollensystemen ist höchste Vorsicht geboten. Foto: eugenesergeev

Um der eigenen Sicherheit willen sollte man als unerfahrener Lost-Places-Fotograf nicht an Kletterausrüstung denken – denn das erfordert langjährige Erfahrung. Allerdings empfiehlt es sich bei weitläufigen Anlagen, eine Rolle Angelschnur mitzunehmen. Am Eingang und der eigenen Person befestigt hat man damit ein probates Mittel, das verhindert, dass man sich verläuft.

Und dann gelten die guten Regeln der Lost-Places-Fotografie, also kein gewaltsames Eindringen, kein Mitnehmen von Dingen und kein Vandalismus. Und, ebenfalls für die Eigensicherung:

  • Immer tastend mit einem Fuß auftreten, niemals gleich das ganze Körpergewicht verlagern (Einsturzgefahr).
  • Eine Hand für die Kamera, die andere an einem sicheren Fixpunkt festhaltend.
  • Mit (Grund-) Wasser vollgelaufene Stellen möglichst umgehen, im Zweifelsfall die Tiefe mit einem Stock (etwa Wanderstock) prüfen.
  • Die Koordinaten am besten mit einem wasserfesten Stift auf den Arm schreiben, falls man Hilfe holen muss.

Das mag übertrieben klingen, aber man muss eben bedenken, dass selbst ein einfacher, seit Jahrzehnten verlassener Bungalow für den Betretenden zum lebensgefährlichen Risiko werden kann – dazu muss man sich nicht in alte Bunkerstollen oder ähnliche Gebilde begeben.

Fazit
Lost Places machen den Fotografen zum Entdecker. Dabei reizt nicht nur die fotografische Komponente, sondern das ganze Drumherum, angefangen von der Recherche bis zum dem Gefühl, sich an einem historischen Ort zu befinden, den seit vielleicht Jahrzehnten keine Menschenseele betreten hat. In wem auch nur ein bisschen “Indy” lebt, sollte es ausprobieren – oft wird daraus ein Hobby auf Lebzeiten.

Autor: red