Andenken an einen einzigartigen Abenteurer: Edward S. Curtis

Der Schattenfänger

Präsident Theodore Roosevelt glaubte genauso an ihn wie Finanzriese J. P. Morgan. Mit deren Hilfe realisierte Edward S. Curtis das bis heute teuerste Buchprojekt der Welt mit 400.000 US-Dollar. 30 Jahre widmete Curtis der Dokumentation indigener Stämme in Nordamerika für die Nachwelt – heute zusammengefasst in einem beachtenswerten Bildband des Verlages Taschen.

„KEINES DIESER BILDER SOLLTE IRGEND ETWAS ZEIGEN, WAS AUF EINFLÜSSE DER ZIVILISATION SCHLIESSEN LIESS, WEDER HINSICHTLICH DER KLEIDUNG NOCH DER LANDSCHAFT ODER ANDERER GEGENSTÄNDE.“

In der Hoffnung auf Freiheit und wirtschaftliche Verbesserung emigrierten im 17. und 18. Jahrhundert die ersten Europäer nach Amerika. Treiber waren religiöse und politische Verfolgung sowie eine Massenarmut durch Überbevölkerung, befeuert unter anderem von einer fallenden Sterblichkeitsrate durch den sanitären und medizinischen Fortschritt. 1707 machten sich mehr als 10.000 Pfälzer wegen der Hungersnot auf den Weg nach Amerika und lösten eine Auswanderungswelle in ganz Deutschland aus, die erst mit einem Verbot aufgrund des Ersten Weltkrieges endete, wo jeder Mann gebraucht wurde. Die Vereinigten Staaten blieben vom 19. Jahrhundert bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts Hauptziel der 5,9 Millionen deutschen Emigranten. Von der Ostküste mit ihren ursprünglich 13 Kolonien breiteten sich auch viele andere europäische Neuankömmlinge mit ihrem familiären Nachzug tief ins Landesinnere hinein aus, bis an die Westküste, in den Norden und in den Süden, wo die Spanier eine neue Heimat gefunden hatten. Doch der Grund und Boden, den die Einwanderer für sich in Anspruch nahmen, war bereits bevölkert. Indigene Stämme lebten in losen Verbänden über das weite Land verteilt und waren so außerstande, der Okkupation und Verdrängung als starke Einheit substantiell etwas entgegenzusetzen. Meist in friedlichen Gemeinschaften und im Einklang mit der Natur existierend, waren die Völker dem kriegserprobten Militär der Eroberer mit seiner Technik nicht gewachsen. Der Kampfwille gegen die Eindringlinge war zwar groß, doch letztendlich zum Scheitern verurteilt … Es kam zu öffentlichen Massenhinrichtungen. – Edward S. Curtis war ein Junge, als er die Farbzeichnung von einer groß angelegten Exekution zu Gesicht bekam. Vielleicht war dieser schockierende Anblick tief in seinem Innersten initial für sein späteres Lebenswerk.

Wenn man die Ausstellungen in den Galerien mit den Zeitzeugnissen von Edward S. Curtis (1868–1952) etwa in den USA heute verfolgt, wirken sie ein wenig surreal. Waren es doch die Vorfahren der Besucher aus gehobenerem Kreis, die für die Auslöschung der Stämme verantwortlich sind. Etwas deplatziert wirken moralische Betroffenheit und die Lobpreisung der nachhaltigen Lebensweise. Selbst die Hochachtung gegenüber der fotografischen Leistung birgt eine gewisse Tragik in sich, denn der Schöpfer kam nicht mehr in den Genuss seines weltweiten Erfolgs: Nach drei Jahrzehnten beharrlicher Projektarbeit, in denen 285.000 Fotogravuren und Abzüge unter größten Widrigkeiten und Entbehrungen entstanden waren, fiel die Veröffentlichung des 20-bändigen Werks „The North American Indian“ in die Zeit der Großen Depression nach dem Börsencrash zur Unzeit …

Der Häuptling – Klamath „Er wird vor dem Hintergrund des Crater Lake und seines steilen, 300 Meter über dem Wasser aufragenden Randes gezeigt.“ (Edward S. Curtis)

J. P. Morgan Jr. verkaufte die komplette Produktion weit unter Wert an einen Buchhändler, bei dem sie in einem Keller landete, um erst 1970 zufällig entdeckt zu werden und schließlich doch noch zu internationaler Bekanntheit gelangen sollte.
Ohne das Wirken von Edward S. Curtis und seiner Mitstreiter in der fotografischen wie wissenschaftlichen Disziplin wäre das Wissen über die indigenen Völker Nordamerikas heute ein anderes. Das kulturelle Erbe wäre vorwiegend auf Erzählungen weniger Alter und Fragmente überkommener Traditionen marginalisiert. Denn die Dokumentation „The North American Indian“ besteht nicht nur aus fotografischen Zeugnissen: Als technisch Interessierter zählte Curtis zu den ersten, der sich den laufenden Film und die Tonaufzeichnung zunutze machten. Keine Frage: Dieses Multitalent war in vielen Disziplinen ein Pionier seiner Zeit – und ein Überlebenskünstler.

Aus armen Verhältnissen stammend, kämpfte der Junge mit seinem Vater zusammen einmal auf einer Farm und dann in einem Gemüseladen um das Bestehen der Familie. Das Leben war ein hartes und von zahlreichen Niederlagen geprägt. Aber auch davon, sich nicht unterkriegen zu lassen und immer wieder einen neuen Anfang zu wagen. Curtis bastelte sich aus einem Stereolinsen-Paar und einem selbstgefertigten Gehäuse aus Holz seine erste Kamera und brachte sich das Fotografieren selbst bei, um sich später mit einem Kredit eine Plattenkamera zu kaufen und 1891 in Seattle in ein kleines Studio einzukaufen, das wegen seines nicht zu übersehenden Talents schnell zur ersten Adresse wurde. Der Wohlstand in den Staaten prosperierte, die Indigenen waren unterdrückt, christianisiert, in Reservate gedrängt und ihr einst heroischer Widerstand zunehmend romantisch verklärt. Es schien en vogue, die letzten Häuptlinge stolz in Porträts zu präsentieren. Nur noch 250.000 Menschen zählte die indigene Bevölkerung nach damaliger Erhebung. Basierend auf diesen traurigen Tatsachen entschließt sich Edward Sheriff Curtis 1903 zu einer enzyklopädischen Dokumentation der nordamerikanischen Urbevölkerung in Wort und Bild, um der Nachwelt eine Vorstellung von ihnen zu hinterlassen.

 

Lesen Sie die komplette Geschichte in PHOTOGRAPHIE 5-6_2025

 

Das Buch

Die Beschaffenheit des Bildbandes „Edward S. Curtis. The North American Indian“ ist fein abgestimmt auf das Thema: Halbleinen und ungestrichenes 90g/m2-Naturpapier mit einem 1,7-fachen Volumen verstärken die antiquarische Anmutung des 696 Seiten zählenden Buches mit schützendem Schmuckschuber. Das grelle Gelb des Leinens, des Bändchens sowie der Doppelseiten, die ein neues Kapitel markieren, kontrastiert mit den monochromen Fotografien und stellt eine optische Verbindung zu der Farbenfreude indigener Völker her, die sich in einigen ergänzenden Zeichnungen und Abbildungen von Alltagsutensilien im Innenteil wiederfinden. Das Aufschlagverhalten des Folianten ist hervorragend. Literaturhistoriker Peter Walther informiert gut recherchiert und anschaulich – auch in deutscher Sprache – über die abenteuerliche Geschichte von Edward S. Curtis‘ Fotos. Es folgen 20 Kapitel, die den 20 von Edward S. Curtis geschaffenen Bänden von 1903 bis 1928 über die Apache, Jicarilla, Navajo bis hin zu den Ureinwohnern Alaskas entsprechen. Die Bildtexte stammen aus der Feder des Fotografen selbst. Angesichts der Aufmachung, Qualität und Bedeutung des Bildbandes erscheinen 100 Euro angemessen. – Directed and produced vom Verleger persönlich: Benedikt Taschen.